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Leseproben

 

Sommer 1976: Die letzte Staatsbürgerkundestunde vor den großen Ferien. So richtig toll fühle ich mich nicht. Wir haben nun in der letzten Stunde Stabü, und ich werde sicher noch einmal von der Conell auf „meine Mauer“ angesprochen werden. Es klingelt zur Stunde, und schon ist sie hereingerauscht in ihrem Pepitakostüm. Ein Raunen geht durch die Klasse, denn sie hat ungewohnten Besuch mitgebracht: Hinter ihr, die Tür forsch zuschlagend, stakst ein Offizier mit langen Schritten hinterher. Frau Conell strahlt über das ganze Gesicht, als sie uns den Gast vorstellt. „Ich darf ihnen Hauptmann Fischer vorstellen.“

Der grinst auch und wirft seine Schirmmütze auf den Lehrertisch, daß sie gleich weiter über den Tisch rutscht und auf den geölten Fußboden fällt. Aber der Hauptmann läßt sich seine gute Laune nicht verderben. Grinsend bückt er sich nach seiner Mütze. Der reinste Strahlemann, und er wird mir richtig unsympathisch.
„Der Genosse Hauptmann kommt vom Wehrkreiskommando, und er wird ihnen in den nächsten Minuten etwas über die Aufgaben unserer Nationalen Volksarmee und über ihren persönlichen Beitrag bei der Erfüllung dieser Aufgaben erzählen.“
Ein leises Aufstöhnen geht durch unsere Reihen. Denn wir wissen, es kommt nichts Gutes auf uns zu. Ermutigend strahlt die Conell ihren Gast an. Der strahlt zurück. Für einen Augenblick herrscht ein großes Strahlen im Raum: Die Conell strahlt, der Gast strahlt, Erich Honecker strahlt von dem Bild an der Wand auf uns herab, und die Sonne strahlt sowieso durch die Fenster zu uns herein.
„Also dann.“
Hauptmann Fischer setzt sich betont locker auf den Rand des Lehrertisches. Frau Conell sucht sich einen Platz in der ersten Bankreihe, damit ihr auch nichts von diesem Vortrag entgeht.
„Gut, bevor ich beginne, habe ich eine Frage an die Jungen in dieser Klasse. Wie ihr wißt- ich darf euch doch noch duzen?“
Wieder geht ein Strahlen über sein Gesicht.
Als von uns keine Reaktion erfolgt: „Also gut, wie ihr wisst, beginnt für euch ja in wenigen Jahren der Grundwehrdienst bei der Nationalen Volksarmee. Die meisten von euch werden wohl nur 18 Monate dienen. Aber sicher haben sich auch schon einige Gedanken gemacht, ob sie für drei oder zehn Jahre, oder sogar als Offizier zur NVA gehen? Möchte jemand länger von euch zur NVA?“
Ich höre fast, wie die Jungs förmlich in ihren Bänken schrumpfen. Gelenke ziehen sich zusammen, Wirbelsäulen krümmen sich. Auch ich werde kleiner, beschäftige mich intensiv mit meinem Bleistift. Niemand will eine große Angriffsfläche bieten. Dieses Verhalten haben wir schon ohne Armeeausbildung gelernt!
„Nun was ist? Etwa niemand?“
Der Hauptmann wartet. Was will der überhaupt von uns? Seitdem ich weiß, wie mein Cousin bei der Fahne geschliffen wird, braucht der mir nicht mit so etwas kommen!
„Geht wirklich keiner länger zu den bewaffneten Organen? Das habe ich ja noch in keiner Klasse gehabt!“
In der Klasse wird es unruhig. Frau Conell dreht sich zu uns um.
„Andreas und du?“ Der zuckt neben mir zusammen, schaut mich leidend an und erhebt sich
langsam von seinem Stuhl. Ich kann ihm leider nicht helfen! Der Hauptmann grinst ihn aufmunternd an.
„Ja, ich werde wohl drei Jahre gehen.“
Ich sehe, daß Andreas die ganze Sache ziemlich peinlich ist.
„Gut, dann erzähle uns doch einmal deine Beweggründe, warum du das Ehrenkleid der Arbeiter- und Bauernmacht drei Jahre tragen möchtest.“
Gott, wie quatscht der nur! Ob der auch so denkt?
„Beweggründe?“
Andreas druckst herum.
„Eigene Beweggründe habe ich eigentlich nicht. Mein Vater meint, ich sollte länger gehen. Dann wäre mein Studienplatz sicherer.“
Oh Andreas, heute ist wirklich nicht dein Tag! Die Klasse johlt auf. Die Conell wird rot, und der Genosse Hauptmann verfärbt sich auch etwas.
„Wenn das dein Beweggrund ist, dann bin ich wirklich von dir und dieser Klasse enttäuscht.“
Ich muss meinem Freund helfen. Dieser Offizier, ich hasse ihn fast!
„Wieso sollen wir uns schämen?“
Jetzt bin ich aufgestanden.
„Andreas hat doch recht! Wenn man länger zur Fahne geht, hat man Vorteile. Sie glauben doch nicht, dass die meisten aus Überzeugung gehen?“
Der Hauptmann hat sich vom Lehrertisch erhoben.
„Zunächst einmal: Es heißt Nationale Volksarmee. Der begriff Fahne stammt aus dem Vokabular der imperialistischen Aggressionsarmee. Ihn möchte ich also in Zukunft nicht mehr hören.“
Ergeben nicke ich.
„Du stellst ja eine interessante These auf. Die musst du mir mal erklären.“
„Ich wollte zur EOS. Ein Platz war an der Schule nur frei. Ich habe ihn nicht bekommen, obwohl ich besser als der andere Bewerber war. Der will Offizier werden. Ich wollte Geschichte studieren. Seine Eltern sind beide Arbeiter. Mein Vater ist Meister, gehört nicht zur Arbeiterklasse. Er hat ihn bekommen. Ich nicht. So einfach ist das!“
Krachend lasse ich mich wieder auf meinen Stuhl fallen.
„Das erklären sie mir mal.“
Der Hauptmann räuspert sich kurz und fährt sich über den Kopf. Der Mützenabdruck auf seinen Haaren verschwindet dabei nicht. Er muß seine Mütze wohl Tag und Nacht aufhaben. Und er strahlt schon wieder.
„Da gibt es eine ganz einfache Erklärung für: Dein Klassenkamerad stellt sein Leben in den Dienst des Sozialismus, indem er ihn schützen will. Also wird er auch vom Staat unterstützt. Du kannst doch auch Offizier werden. Sicher würdest du auch einen Platz an der EOS bekommen.“
In den hinteren Bankreihen lässt jemand laut die Luft aus seinen Wangen pfeifen. Als ich etwas auf sein Gelaber erwidern will, winkt er ab.
„Deine These, dass die meisten nur aus materiellen Vorteilen zur Armee gehen, habe ich überhört. Du solltest einmal überlegen, was du daherredest. Könnte es sein, dass dein Elternhaus nicht gerade sozialistisch geprägt ist? Kommt das vielleicht daher, weil du nicht aus einem Arbeiterhaushalt kommst?“
Es ist zum Verzweifeln! Da ist sie wieder die alte Leier: Wagt man einen kleinen Zweifel auch nur anzudeuten, ist man gleich ein Klassenfeind. Jetzt hat also das Elternhaus Schuld daran, dass ich nicht zur EOS darf! Was nützt das Fragen? Maul halten ist die Devise! Soll er quatschen! Der Genosse Hauptmann lässt vernehmlich seine Fingerknochen knacken.
„Ich glaube, bis in diese Klasse scheint sich unser Klassenauftrag noch nicht herumgesprochen zu haben. Dann werde ich euch einmal etwas über unsere Nationale Volksarmee erzählen.“
Oh nein, was jetzt kommt, wissen wir alle. Die Klasse schrumpft noch einmal um einige Zentimeter. Karsten schaut mich kurz an und verdreht die Augen, und Andreas ist schon fast unter der Bank verschwunden, so peinlich ist ihm sein Auftritt. Mein Einwurf ist für den Hauptmann damit erledigt. Ich bin nicht einmal traurig darüber, sicher hätte ich mir noch das Maul verbrannt.
Und der Hauptmann beginnt: „Die siegreiche Arbeiterklasse braucht zur Verteidigung ihrer sozialistischen Errungenschaften nicht Waffen schlechthin, vielmehr muss sie dafür sorgen, daß ihre Machtmittel denen der Imperialisten überlegen sind. Diese Überlegenheit ermöglicht es der revolutionären Arbeiterklasse und den von ihr geführten …….“
Oh Gott, was erzählt der da vorne? Steht der unter Drogen? Das ist ja nicht zum Aushalten, und ich stelle meine Ohren ab. Hauptmann Fischer läuft weiter zur Hochform auf. Er ist zwar nicht zum Anhören, aber amüsant zum Ansehen. Die Hände auf den Rücken verschränkt, läuft er mit knarrenden Stiefeln vor uns auf und ab. Wenn er einen Satz besonderen Nachdruck verleihen will, unterbricht er kurz seine Laufbahn, klopft auf einen nicht existenten Tisch und spuckt dabei jedes Wort aus. Speicheltropfen fliegen in hohem Bogen bis auf die erste Bank. Die Form seines blassen Gesichtes erinnert mich an eine Katze. Auch wie er da vorne gespannt hin und her läuft, erinnert er mich an ein Raubtier. Wer bei ihm Soldat ist, wird nichts zu lachen haben. Ich sehe, wie er sich lautlos von hinten an seine armen, uniformierten Opfer heranschleicht und dann seine Fangzähne in ihren Nacken schlägt. Das grüne Ungeheuer hat wieder zugeschlagen und lässt nur Knochen und Uniformteile übrig.
„In der Deutschen Demokratischen Republik dient die Armee dem vom Imperialismus und Militarismus befreiten Volk dazu, den zuverlässigen Schutz der Freiheit ihrer Bürger zu gewährleisten und den umfassenden Aufbau des Sozialismus zu sichern.“
Was erzählt der da bloß? Selbst wenn ich mich anstrengen würde, wären mir seine Satzgebilde ein Rätsel. Wie lange müssen wir das noch ertragen? Martina reinigt sich schon seit Minuten die Fingernägel. Karsten zeichnet voller Inbrunst mit einem Zirkel auf seiner Tischplatte. In Gedanken höre ich die Zirkelspitze kratzen, und meine Nackenhaare richten sich auf. Thomas deckt sein Gesicht mit der Hand ab und scheint gleich abzunicken. Die ganze Klasse verblödet allmählich unter diesem Phrasentrommelfeuer. Nur Frau Conell verfolgt mit roten Ohren das Referat des Genossen Hauptmann.
„Und so ist es die Ehrenpflicht eines jeden jungen Bürgers, mindestens drei Jahre das Ehrenkleid der Arbeiter- und Bauernmacht anzuziehen.“
Der Hauptmann holt noch einmal tief Luft. Nun muß das Finale kommen. Was redet er bloß? Alle gehen drei Jahre zur Armee? Die NVA eine Armee der Unteroffiziere! Welch Schwachsinn!!! Und weiter geht es. Der Hauptmann hat wieder Kraft geschöpft.
„Denn der Staat hat euch viel gegeben. Ihr habt alle einen Kindergartenplatz genossen. Ihr dürft zur Schule gehen und euer Ausbildungsplatz ist gesichert. Das wichtigste aber ist:“ , ein Leuchten geht über sein Gesicht, als ob er uns vom Himmelreich erzählt, „Ihr dürft in Frieden leben. Dafür steht die Nationale Volksarmee auf Friedenswacht. Und mit einer längeren Verpflichtung könnt ihr eurem Staat dafür danken.“
„Amen“, flüstere ich leise zu Andreas, und der wird rot, weil er das Lachen unterdrücken muß. Ruhe – der Genosse Hauptmann schweigt und strahlt. War´s das gewesen? Hat die Tortur ein Ende? Wir glauben es nicht, erwachen nur langsam aus unserer Agonie. Man schaut sich gegenseitig an, um sich zu vergewissern, daß man noch normal ist. Frau Conell erhebt sich. Genosse und Genossin strahlen sich schon wieder an. Welche Liebe innerhalb der Partei! Bei soviel Liebe kann es ja auch keine Diskussionen bei denen geben.
„Habt ihr noch Fragen? Wer von euch möchte nun länger dienen?“
Alle zucken wieder zusammen. Der Hauptmann wartet. Sein Strahlen wird blasser, verschwindet. Die Sonne versteckt sich hinter einer Wolke, das weise Lächeln E.H.´s erstirbt auf dem Bild. Schaut auch er enttäuscht? Ich spinne wohl schon!
„Nun gut. Wir werden uns nach den Ferien wiedersehen. Vielleicht denkt ihr ja einmal über meine Worte nach. Ich wünsche trotzdem schöne Ferien.“
Die Mütze wird wieder auf den schwarz glänzenden Schmalzkopf gesetzt.
„Liebe Frau Conell, in dieser Klasse haben sie noch viel Arbeit, bis aus diesen Schülern ausgereifte sozialistische Persönlichkeiten werden.“
Er grüßt noch einmal militärisch kurz, die Tür knallt, und schon ist die Erscheinung verschwunden.